Zeitmessung

Eine Anekdote aus der Innenwelt

„Wie hast du das gemacht?“, klirrt es aus dem Gitter der metallenen Maske, die an ein unbeholfen geschmiedetes Gesicht erinnert. Das Lemroi rollt neugierig quietschend um das Dünnlederwesen herum, das auf dem Boden zusammengesunken ist, und betrachtet es dabei von allen Seiten.

„Was …“

Die Apparatur, die auf den Namen Ilrix hört (wenn sie will), gibt ein tickendes Geräusch von sich, wie eine Spieluhr, die aufgezogen wird. „Dieser Umbau. Du warst so klein wie ich, als wir dich gefunden haben. Dann warst du doppelt so groß. Aber du hast keine Teile ausgetauscht, das wäre uns aufgefallen. Wir haben dich beobachtet. Und jetzt bist du ganz krumm, labberig und grau.“ Ilrix piekt dem Geschöpf mit seinem Bohr-Ärmchen prüfend in eine seiner Extremitäten. „Autsch! Lass das! Das macht das Leben ganz von allein.“ Das Dünnlederwesen gibt ein abgehacktes, trockenes, fauchendes Geräusch von sich. Ilrix würde ihm einen Schluck Öl anbieten, weiß es aber mittlerweile besser. Die wissbegierigen Lemroi haben nämlich herausgefunden, dass diesem Geschöpf, das sich selbst „Mensch“ nennt, Wasser und Pilze besser bekommen. Ilrix fährt zu einem der Vorratsbehälter und kehrt mit einem Kanister zurück, um das Dünnlederwesen vorsichtig zu bewässern. Die Lemroi haben einiges über Mensch gelernt, aber längst nicht alles verstanden. Sie haben ihm das Schmieden beigebracht, das Reparieren und Ölen, und es so zu einem Mitglied ihrer Gemeinschaft gemacht. „Wirst du jetzt wieder klein?“

Mensch verbreitert die Gesichtsöffnung und gibt wieder dieses abgehackte Geräusch von sich.
„Du wirst es sehen. Meine Zeit ist abgelaufen.“

Abgelaufen. Meint es „ausgelaufen“? Ilrix sucht auf dem Boden vergeblich nach nassen Flecken oder einem Rinnsal. Auch wenn Lemroi an Uhren erinnern, mit ihren Zahnrädern und ihrem Klicken, ist Zeit ihnen kein Begriff. Sie messen sie nicht, weder in Sekunden noch in Jahren.
„Was ist Zeit?“

Mensch antwortet nicht gleich. Vielleicht ist es ein Geheimnis, das es nicht verraten will. Oder es muss bloß komplizierte Worte berechnen. Das Dünnlederwesen tut so etwas sehr leise. Wenn Lemroi vorhaben, etwas Komplexes zu erklären oder eine Schimpftirade in Gang setzen, verraten sie sich durch ein leises oder lauteres Rattern, weil sie erst ihre Sprachspulen in Gang setzen und spannen müssen. Ilrix versucht, ganz leise zu sein und horcht in die Stille. Vielleicht ist doch ein ganz leises Rattern oder Piepsen zu hören? Nein, nichts.

„Zeit ist die Leinwand, auf der das Leben Erinnerungen malt.“ – „Wer?“ – „Das Sein. Das, was ist. Manchmal entsteht ein Bild aus trüben Farben, aus einsamem Grau, aus verratenem Violett, aus mörderischem Grün. An anderen Stellen fängt die Leinwand Feuer oder wird aufgerissen von Schmerz.“ Ilrix wackelt aufgeregt mit dem Oberteil. Bilder, Gemälde! Dünnlederwesen wie Mensch malen Kopien von sich selbst an Wände, hat es erzählt. Das würde Ilrix gern einmal mit eigenen Objektiven sehen. „Moment. Wenn Zeit die Leinwand ist, wie kann sie auslaufen?“

„Jedes Geschöpf hat seinen Platz auf dieser Leinwand. Mein Teil ist gemalt, nach mir folgt ein anderer.“ Mensch spricht leiser und langsamer, als sei die Kraft seiner Sprachspule bald am Ende. Vielleicht ist es das. Ilrix beginnt langsam, zu verstehen.
„Welche Farben hat dein Bild?“

„Am Anfang ist es grün und gelb, wie die Blätter von Bäumen. Ich weiß, du kennst keine Bäume. Stell sie dir vor wie hohe Pilze mit vielen flachen Schirmchen und einem kräftigen Stamm. In der Krone piepsen und zirpen kleine Fluglemroi. Ein Wind streicht durch die Baumwipfel. Das Bild wird rot und schwarz, die Farbe ist dicht aufgestrichen, und nichts ist darin zu erkennen. Dann ist es grau, kalt und dunkel wie die verlorenen Höhlen, in die noch kein Lemroi je Licht gebracht hat. Und jetzt … es ist golden, orange, messingfarben wie Vertrauen, blassgrüner Friede, rostrote Wärme. Gesichter sind darin zu erkennen, geschmiedete Masken … Freunde.“

Mehr sagt Mensch nicht. Es zerfällt bereits zu Staub, als Ilrix endlich antwortet:

“Deine Laufzeit in Nimru wird nicht vergessen werden, Mensch.“

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