Auszug aus dem Tagebuch von Yorundan, Leiter der Expedition nach Nagarea. Weitere Teile des Tagebuchs befinden sich im Archiv der völkerkundlichen Akademie zu Berlion.
2. Tag, Nagarea
…die Insel, von gar seltsamen Pflanzen bewachsen und von Tieren bewohnt, deren Aussehen ich mir nie im Traum hätte vorstellen können, scheint recht ungastlich zu sein. Gestern haben wir unseren besten Kundschafter, Elmorn, ausgesandt, um nach Spuren von Zivilisation zu suchen. Noch ist er nicht zurückgekehrt, was mir Sorgen macht. Wir hatten abgemacht, dass er vor Sonnenuntergang zurückkehrt, wenn nichts Schlimmes passiert ist, und gestern Abend hätte er sich uns schon wieder anschließen sollen. Wenn er morgen nicht zurückkehrt… ich mache mir ernsthaft Sorgen, aber wir können es uns nicht leisten, mit unserer kleinen Gruppe nach ihm zu suchen, sind zu wenige, um uns für eine Suche aufzuteilen.
Zum Glück haben wir genügend Vorräte für ein paar Tage mitgenommen, denn wir wissen nicht, welche Pflanzen essbar sind, und noch sind wir nicht in der Lage, Tiere zu jagen, denn die sind einfach nicht zu erwischen. So ist die Stimmung unserer kleinen Gruppe nun nicht nur wegen Elmorns Verschwinden, sondern auch wegen der kargen Mahlzeiten gedrückt.
3. Tag, Nagarea
Elmorn, ein wirklich tapferer Mann, der als Kundschafter auf unseren kleinen Entdeckungstouren vorausging, ist nicht wieder aufgetaucht. In einem solch fremden Land wie diesem, weiß ich nicht, welche Chancen er hat… und was passiert sein mag, dass er nicht zurückgekehrt ist. Ich möchte nur das beste für ihn hoffen, doch ist diese Hoffnung sehr gering. Es bedrückt mich und die anderen, einen so guten Kameraden zu verlieren… aber wir alle wussten, dass wir uns auf eine lebensgefährliche Reise einlassen. Es macht mich traurig, dass es ausgerechnet jemanden wie ihn zuerst erwischt hat. Mögen die Götter sich seiner Seele annehmen… morgen früh, sobald die Sonne aufgegangen ist, wollen wir einen kurzen Götterdienst abhalten, um Elmorn zu gedenken.
5. Tag, Nagarea
Wir sind weiter ins Innere der Insel vorgedrungen. Dort haben wir Spuren von Zivilisation entdeckt, die schon sehr alt sein müssen. Doch je weiter wir vorgedrungen sind, desto mehr schien es, als seien die alten Bauwerke noch bewohnt. Und tatsächlich, heute haben wir zum ersten Male die offenbar intelligenten Bewohner dieser uralten Siedlungen zu Gesicht bekommen. Eine Annäherung ist schwierig, sie schienen über unser Auftreten irritiert… aber das, was wir von ihnen gesehen haben, ist humanoid, also sind wir uns vielleicht nicht ganz unähnlich, ich wage es zu hoffen…
6. Tag, Nagarea
Am heutigen Abend tauchten fremde aufrecht gehende Gestalten nahe unseres Lagers auf, verhielten sich aber friedlich, sodass keine Gefahr zu drohen schien. Ein aufregender Moment, das spürte ich, denn hier trafen wir erstmals auf ein möglicherweise uns in unserer Intelligenz ebenbürtiges Volk… da durften wir einfach nichts falsch machen. Wir machten einladende Gesten und sie näherten sich unserem Lagerfeuer, um sich dann umzu’sehen‘. Es schien, als könnten sie nicht sehen… sie näherten sich jedem von uns und befühlten unsere Gesichter. Wir ließen es geschehen, denn ein jeder von uns kennt diese Geste von Blinden.
Ob das ganze Volk blind ist? Ob ein Fluch der Götter auf ihnen lastet? Ein bemitleidenswertes Volk, wenn sie nicht die Schönheit dieses Landes sehen können, in dem sie doch schon so lange zu leben scheinen – wenn die Gebäude, die wir entdeckten, von ihnen erbaut wurden. Obwohl ihre Augen offensichtlich nutzlos sind, nahmen sie unsere Köpfe in beide Hände und schienen uns tief in die Augen zu sehen… ein unangenehmer Augenblick, denn ein Blick in ihre Augen ist wie ein Blick in einen unendlichen sternlosen Nachthimmel. Natürlich konnten wir die Bedeutung ihre Worte nicht verstehen, aber sie scheinen sich ‚Calaey‘ zu nennen. Einer von ihnen schrieb das Wort in den Sand, ‚Calaidh‘.
Es erstaunt mich, dass sie imstande sind, zu schreiben, obwohl sie nicht sehen können. Erst dann fiel mir plötzlich auf, dass sie eine Abart unserer Buchstaben zu benutzen scheinen… seltsam. Es war doch nie einer von uns Menschen auf dieser Insel?
Als die Sonne ganz hinter dem Horizont verschwand und der Himmel sein sternbesetztes Kleid über uns breitete, gesellten sich weitere Calaidh zu uns. Etwas an den Calaidh ist seltsam, sie sind so… kalt, aber doch auf ihre Weise wunderschön. Einige von den Calaidh blieben die ganze Nacht bei uns, auch wenn dies einigen meiner Kameraden nicht besonders behagte. Sie sind mir unheimlich, und das liegt gewiss nicht nur an ihren spitzen Eckzähnen, spitz wie die eines Raubtiers, die ab und zu im Schein des Feuers aufblitzten, wenn sie lachten. Offenbar amüsierten sie sich über unsere Annäherung, doch wir nehmen es ihnen nicht übel, denn ein Lachen verbindet, und so lachten wir gemeinsam.
…
10. Tag, Nagarea
Inzwischen haben wir Wege gefunden, uns mit den Calaidh ein wenig zu verständigen, denn wir haben einen Mann namens Teleron bei uns, der ein Meister der Worte ist, und schnell von den Calaidh lernt. Er konnte uns schon einige ihrer Worte erklären, und die Calaidh selbst scheinen sich Mühe zu geben, in einfachen Worten zu sprechen. Ich bin wirklich erstaunt, wie gut alles vorangeht. Die Calaidh führen uns anscheinend zu ihrer Hauptsiedlung. Da sie uns nun auch bei Tage begleiten, konnte ich sie schon näher betrachten.
Ihre Haut ist im Vergleich zu der Unsrigen ebenfalls sehr blass… ihre schwarzen blinden Augen stechen geradezu aus ihrem Gesicht hervor, und doch, obwohl ich dies zuvor, ohne jegliche Kenntnisse über dieses Volk, als Zeichen für die Hand des Bösen kennzeichnen würde, muss ich sagen, dass diese Augen und ihre Hautfarbe die Calaidh bloß… anders, ein wenig fremdartig wirken lässt. Vielleicht weltfremd… das Schwarz ihrer Augen lässt mich immer an das denken, was hinter der spiegelnden Kristallkugel liegt, die Rabérion umgibt. An das Universum, das Unendliche… und doch, obwohl ihre Augen blicklos sind, fühle ich mich beobachtet, wenn ihre nutzlosen Augen mich betrachten.
Die Haare der Calaidh sind schwarz oder sehr hell… keine anderen Haarfarben habe ich bei ihnen gesehen. Was mir seltsam anmutet, ist die Geschmeidigkeit, wie sie ihren Weg suchen oder sich an bestimmte Teilnehmer unserer Exkursion wenden. Sie sind, obwohl sie nicht sehen können, so zielbewusst… Auch scheint mir unheimlich, dass sie, im Gegensatz zu uns, bei den Wanderungen durch das Unterholz, die scharfkantigen Blätter und herabgefallenen Äste, keine Kratzer davonzutragen scheinen. Entweder, sie sind so geschickt, dass sie den Zweigen ausweichen, oder… ja, oder was? Des Rätsels Lösung will sich mir nicht offenbaren.
…
15. Tag, Nagarea
Wir haben die Hauptsiedlung der Calaidh erreicht, doch begegneten wir dort niemandem, der eine herrschende Position einnahm. Doch die Calaidh führten uns in ein Gebäude, das dem Archiv unserer Akademie gleichzukommen scheint. Ein riesiges Archiv von Pergamenten. Gebundene Bücher besitzen sie nicht, doch die Pergamente scheinen aus außerordentlich stabilem Material zu bestehen, der Staub der Jahrhunderte liegt auf ihnen, konnte ihnen jedoch nichts anhaben. Die Schriftzeichen dieser Pergamente sind andere als die, die der Calaidh bei unserem ersten Zusammentreffen benutzte… gerade, als wir resigniert den Saal wieder verlassen wollten, kam einer der Calaidh zu uns und steckte mir ein schmales Schriftstück zu, das ziemlich neu zu sein schien. Bei näherer Betrachtung entpuppte es sich als Übersetzungstabelle… Nun konnten wir mit den alten Aufzeichnungen doch etwas anfangen. Auch wenn die Schriftsprache schwieriger zu verstehen ist, als ihre gesprochene Sprache, so konnten wir doch einiges aus ihren Aufzeichnungen lernen, dank unserem begabten Übersetzer Teleron. Ich notiere hier die Worte, die er uns sinngemäß übersetzte:
Aus den Aufzeichnungen der Calaidh: Vor der Erblindung, die Erstarkung
„…Viele von uns starben an der Krankheit, wir mussten einen Weg finden, unser Volk zu retten. Einer von uns träumte von Magie, und der Älteste der Seher bestätigte, was geträumt war. So taten wir, was die Anzeichen uns prophezeiten, und wirkten zum ersten Mal die fremde Magie. Blut und Knochen, die Essenzen, halfen uns, den Verstorbenen wieder Leben zu geben. Zwar stellten wir fest, dass sie nicht mehr lebten wie wir, dennoch half es uns gegen die Krankheit. Denn sie wiederum, die von da an unser Blut tranken, gaben uns Fähigkeiten, die Krankheiten zu überwinden und leichte Wunden aus eigener Kraft zu heilen, außerdem sind wir in der Lage, bei Berührung einer anderen Person ein paar derer Gedanken zu erkennen. So treffen wir uns jeden Abend mit einem einst Toten und geben ihm von unserem Blut. Es ist so selbstverständlich für uns geworden, wie das Atmen. […] Den Göttern gefiel nicht, was wir taten, und so straften sie uns mit Blindheit und ließen die Toten im Licht der Sonne verbrennen. Was zuerst unser Leben zu zerstören drohte, ließ sich überwinden, durch die verbesserten Sinne, die die Toten uns gaben, und das Wissen, dass die Toten sich bei Nacht gefahrlos bewegen konnten. Geräuschorakel und zukunftsweisende Zeichen benötigen keine sehenden Augen…
Obwohl die Götter uns straften, achten wir sie dennoch, denn wir haben durch ihre Strafe Respekt vor ihnen gelernt. Einer von ihnen, der Nachtwesen zugewandt ist, hat sich dennoch auf unsere Seite gestellt und unterstützt uns, er ist es, den wir loben und preisen. Auch unsere Toten verehren diesen Einen Gott, der sie mit seiner Nachtdunkelheit vor der Sonne schützt. Schließlich machte uns dieser Gott ein Geschenk und ließ uns und die Toten eins werden. Tags sind wir blind aber nutzen die Fähigkeiten der Toten, nachts bewegen sie sich mit unseren Körpern und sie können aus unseren Augen sehen.“
Ich weiß, es klingt furchtbar… sie ließen ihre eigenen Toten ihr Blut trinken… und nicht nur das, sie teilen sich auch noch einen Leib! Und nun kann ich mir auch denken, warum sie unsere Schriftzeichen kannten…
Aber der Gott, den sie anbeten… das muss Liamh sein. Auch wenn er von Diebesgesindel und anderen zwielichtigen Gestalten verehrt wird, so gehört er doch zumindest dem Kreise der wohlmeinenden Götter an, das beruhigt mich… ein wenig.
…
20. Tag, Nagarea
Mittlerweile können wir alle uns recht gut mit den Calaidh verständigen. Sie können gar nicht begreifen, warum wir so empört über ihren Umgang mit dem Tod sind, aber das werden wir ihnen wahrscheinlich genauso schwer verständlich machen können, wie sie uns die… Gewöhnlichkeit, als die sie die Sache betrachten. Ein weiterer Schrecken offenbarte sich uns, als wir letzte Nacht Besuch von Elmorn bekamen, den wir tot geglaubt hatten. Nun, im Grunde ist er wohl auch tot… die Calaidh hatten von seinem Blut getrunken, und ihn wohl unabsichtlich zu einem der ihren gemacht.
Er ist nun so kalt wie sie… und doch, es ist nichts Böses an ihm. Elmorn konnte uns schließlich davon überzeugen, dass weder die Calaidh noch die Toten in ihnen eine Gefahr für uns darstellen, da sie mit ihrem Tun niemanden verletzen. Dennoch, mir ist die Sache suspekt. Morgen wollen wir wieder aufbrechen, wir müssen Kunde von Nagarea im Königreich verbreiten, von den Calaidh, dem Volk, das an Handelsbeziehungen mit Daaron interessiert ist. Einige von den Calaidh wollen uns begleiten, mir ist nicht ganz wohl dabei, die Blassen mitzunehmen, aber wir wollen die friedlichen neuen Beziehungen zu den Calaidh nicht gefährden. Sie sind ein offensichtlich mächtiges Volk, und ich möchte keinen Krieg durch solcherlei Missverständnisse riskieren.
…
22. Tag, Rückkehr
Die Küste Daarons liegt vor uns. Wir haben Tairi an Bord, das wunderbare Holz von Nagarea, einige feine Tierfelle, wohlschmeckende Früchte und einige Heilkräuter, die nur auf Nagarea wachsen, um die Händler neugierig zu machen. Nicht alle von uns haben die Fahrt überlebt, einige von uns sind an Krankheiten gestorben, gegen die die Calaidh immun zu sein scheinen… wenigstens lassen diese Blutsauger unsere Leute in Ruhe. Noch immer beobachte ich sie mit Misstrauen. Ich fühle mich seltsam geschwächt, als würde ich mit jeder Nacht Kraft verlieren. Vielleicht habe auch ich mich mit einer dieser fremden Krankheiten infiziert…
…
25. Tag Nacht, Berlion
Schließlich haben sie mich doch erwischt… aber Elmorn hat Recht, es ist gar nicht so schlimm. Ich bin nun also einer von ihnen, von den Calaidh… ein Blutsauger… ich spüre, mein ganzes Inneres hat sich gewandelt, ich kann es nicht beschreiben. Hoffentlich werde ich Möglichkeit haben, zu lernen, mit dem umzugehen, was ich nun bin. Mit etwas Überzeugungskraft haben wir es geschafft, nach Sonnenuntergang eine Audienz bei unserem ehrenwerten König zu bekommen. Zum Glück kann er die Sprache der Calaidh nicht verstehen, sonst hätte er sie wegen ihrer leicht abfälligen, wenn auch wohl nicht böse gemeinten Bemerkungen über das veraltete System der Monarchie sicherlich in einen Kerker geworfen… Nun, Handelsverträge sind gemacht und unterschrieben, beide Seiten sind wohl zufrieden. Nun will ich mich ganz meinem neuen Leben widmen… die Calaidh sagen, ich habe noch viel zu lernen, ein neues „Leben“ liegt vor mir![…]