Diener

Der glühendheiße Wind, der von den Lavaflussebenen herüberwehte, zerzauste sein Gefieder, und seine Krallen gruben sich etwas fester in die kleinen Spalten im Fels. Thrunx hatte einen langen Weg hinter sich gebracht, um hierher zu gelangen, doch wusste er, die Mühe war es wert und war lebensnotwendig für sein Volk. Ob er als Held zurückkehren würde? Noch war unklar, ob er seine Aufgabe erfolgreich beenden würde, denn sein Volk war gänzlich unbekannt in der Sphäre Caeulsh, wie die Ashzarr sie nannten. Der Respekt, den man seinem Volk in Zukunft gegenüberbringen würde, hing nun allein von ihm ab. Die Clanherren der gefiederten Ashzarr hatten Thrunx geschickt, weil er die besten Eigenschaften eines Ashzarrs in sich vereinte – vielleicht auch, weil sie ihn gerade deswegen noch mehr verachteten als jeden anderen Angehörigen ihres Volkes.

 

Er hatte sich nicht viele Gedanken darüber gemacht, warum gerade er ausgewählt wurde – das Risiko, sein Leben zu verlieren, nur weil er zu faul war, die Aufgabe zu erledigen, wollte er dann doch nicht eingehen.
Nun wartete er darauf, dass sich das Tor endlich öffnete. Nichts gehorchte hier irgendwelchen Regeln oder Zeiten, doch der Ort war der Richtige, das wusste Thrunx. Dann plötzlich sah er es. Erst ein kleiner Funke in der Luft, aus dem ein rötliches Funkeln und Glitzern wurde, das um ein unsichtbares Zentrum wirbelte und sich drehte, bald schon zu einem senkrecht stehenden wabernden Kreis aus Licht wurde, dessen Durchmesser immer mehr zunahm, bis er schließlich bis zum Boden reichte und Thrunx um das Dreifache überragte. Ohne zu zögern durchschritt Thrunx das eben entstandene Tor, das sich gleich hinter ihm wieder schloss.
Kälte. Kälte und eine seltsame Lichtintensität erwarteten ihn auf der anderen Seite. Er kniff die Augen ein wenig zusammen, ein halbtransparentes Augenlidpaar schob sich über die pechschwarzen Augen und schützte sie vor dem ungewohnt starken Licht. Thrunx sah sich um, auf der Suche nach Spuren von Zivilisation, doch alles war so fremd für ihn. Wie sollte er die stehenden Wesen von den wandernden Wesen auf Anhieb unterscheiden? Er versuchte, besonders bösartig auszusehen und machte sich dann wahllos in eine Richtung auf den Weg, jede war so gut wie die andere. Nach ein paar Schritten hielt er inne. Der Boden hier war so seltsam weich. Er hob einen Fuß und beäugte ihn argwöhnisch. Ein paar dunkle Erdkrumen hatten sich an den Krallen verfangen und dufteten unangenehm nach Natur. Er schüttelte sie ab und stakte dann weiter über das recht lockere Erdreich. Nach einer Weile meinte er, ein Geräusch zu hören. Thrunx beschleunigte seine Schritte, versuchte dennoch, sich möglichst leise fortzubewegen. Schließlich sollte ihn niemand bemerken, eh er nicht ausreichend informiert und auf seinen Auftrag vorbereitet war.

 

Das helle, abgehackte Geräusch wurde lauter, es schien aus dem steinernen Kasten zu dringen, den er bald vor sich erblickte. Ob es das Werk von wandernden Wesen war? Oder natürlich gewachsen? Der Gefiederte näherte sich vorsichtig. An einer Seite war ein symmetrisch geformtes Loch in dem Kasten; seltsam, solch eine gerade, logische Form hatte Thrunx nie zuvor gesehen. Das abgehackte Geräusch war nicht mehr zu hören, dafür geradezu abscheulich melodische Töne… es schienen Stimmen zu sein, die in einer Sprache redeten, die Thrunx nicht verstand. Ihr Klang war ihm unangenehm. Um sich ein wenig mehr mit der Umgebung vertraut zu machen, ging er um den Kasten herum, um zu sehen, was auf der anderen Seite lag.
Da war ein seltsames Ding, das ihn davon abhielt, weiterzugehen. Nun, es versuchte dies zumindest. Ob es lebendig war und zu den stehenden Wesen gehörte, konnte Thrunx nicht herausfinden, doch er hackte einfach mit seinem kräftigen Schnabel danach, bis sich ein Loch darin bildete, durch das er mühelos hindurchschlüpfen konnte. Den Lärm, den er dabei verursacht hatte, vergaß er schnell, als er Stimmen vernahm – und Worte zu verstehen glaubte. “Was tut er da?” die Stimme klang nervös. Ein anderes Wesen fragte verdutzt: “Seltsam sieht er aus. Er ist nicht von hier. Was er wohl hier will?”

 

Um den Gefiederten herum sammelten sich Wesen, die ihm ähnelten. Auch sie trugen ein Federkleid, wenn auch nicht schwarz, wie das seine, sondern bräunlich gefleckt, und nicht mit harten glänzenden Schuppen durchsetzt. Ihre Augen hatten nicht diesen roten Funken, und sie wirkten gar nicht beeindruckend. Eher wie Gefangene. Auch die Sprache der Wesen war ein wenig anders, sie sprachen einen Dialekt, den Thrunx auch viel zu melodisch fand, und so leise… Herrisch forderte er sie auf, zu schweigen. Gar würdelos drängten sie sich sodann zusammen und blickten ihn aus beschämend ängstlichen Augen an.

 

Thrunx stolzierte durch den kleinen Schwarm, und sie wichen ihm furchtsam aus. “Ihr! Habt Euch unterdrücken lassen von den nichtigen caeulshen Wesen! Schließt Euch mir an und kämpft gegen das Vergessen! Dies hier könnt Ihr doch nicht als Existenz bezeichnen!” schnaubte er erbost. Die jämmerlichen Kreaturen schienen nicht zu begreifen, was der Auserwählte ihnen vermitteln wollte. Sollte das etwa das Wesen sein, das dem der Ashzarr in der unteren Sphäre entsprach? Wie sollte er es jemals schaffen, sich den gebürtigen Respekt zu verschaffen, bei den wandernden Wesen, die seine jämmerlichen Ebenbilder so zugerichtet hatten?

 

Seine schwarzen Augen glühten auf und sein Körper erbebte vor Zorn, als er diese ungeheuerliche Entdeckung in ihrer ganzen Tragweite erfasste. ‚Hier ist viel zu tun’, dachte er bei sich, ‘und wenn ich zurückkehre, werde ich mich dafür rächen, allein geschickt worden zu sein!’ Als das viel zu helle Licht endlich schwächer wurde, wurden die jämmerlichen Wesen um den Gefiederten herum, er wollte sie von nun an Naerrish nennen, immer träger, bis sie sich schließlich in eine Ecke zurückzogen, den Kopf ins Gefieder steckten und sich schließlich nicht mehr regten. ‚Von ihnen ist also keine Hilfe zu erwarten, nun, dann tue ich eben allein, wozu ich geschickt worden bin. Sie werden mir noch dankbar sein!’

 

Heimtückisch wie er war, begab auch er sich in eine dunkle Ecke des seltsam abgeteilten Bereichs, nicht jedoch, um zu ruhen, sondern um mit gellender Stimme einen Schlachtruf zu schmettern. Dieser Schrei riss nicht nur die Naerrish wieder aus ihrem Schlaf, sondern auch die wandernden Wesen, die sich offensichtlich in dem großen Kasten aufhielten, und nun dadurch aufmerksam gemacht wurden, dass etwas nicht stimmte.
Der recht kräftige, aber einfältige Bauer Tobias verließ das Haus, nachdem er vom Hühnerverschlag her ein ungewöhnliches Geräusch vernommen hatte, um dort nach dem Rechten zu sehen. Das Licht der Laterne flackerte, als er zum Verschlag stapfte, warf dennoch seinen Schein auf das verräterische Loch im groben Bretterzaun. “Verflixt, da wird doch nicht der Fuchs oder Schlimmeres eingebrochen sein?” brummte Tobias mit missgelaunter Stimme. Das Gackern der Hühner drinnen klang nervös, und der Bauer glaubte, ein Rascheln und Scharren zu vernehmen. “Wenn ich das Biest erwische, dreh ich ihm den Hals um!” eilig stieß Tobias das einfache Holztürchen auf, entdeckte jedoch nur die kleinen, zusammengedrängten Gestalten der Hennen in einer Ecke des Stalls. Misstrauisch leuchtete er mit der Laterne auch in die anderen Ecken, konnte aber außer Geflügel nichts erkennen.

 

Doch… dort in der einen Ecke starrten ihn zwei rot glühende Augen an! Als er seine Laterne in die Richtung hielt, schien dort nur ein zusammengekauertes Huhn zu sitzen. Doch da schoß plötzlich dieses scheinbar harmlose Huhn auf ihn zu und stieß ihm grob die Laterne aus der Hand, welche zu Boden fiel und dabei die Flamme beinah erstickte. Bei dem dämmrigen Licht konnte Tobias kaum noch das schwarz gefiederte Huhn erkennen, das nun auf seiner Schulter hockte und ihn seltsam anzuknurren schien. Bevor er nach dem unverschämten Vieh schlagen konnte, begann es, mit seinem kräftigen Schnabel nach seinem Gesicht zu hacken, Tobias schrie verzweifelt und schlug blind um sich, doch als der Schnabel immer wieder seine Kehle traf, verstummten seine Schreie bald und er ging zu Boden.

 

Die Naerrish schienen sein Tun immer noch nicht zu begreifen, sie waren panisch in alle Richtungen geflüchtet oder saßen apathisch in der Ecke. Thrunx hackte noch ein paar Mal nach dem großen wandernden Wesen, das jetzt nicht mehr wandern würde, und schrie triumphierend auf. Sein Schnabel und sein Gefieder waren vom Blut durchtränkt, und Thrunx fühlte sich jetzt so richtig böse. Da vernahm er wieder diese melodischen Geräusche, sie machten ihn wütend. “Das Fürchten sollen sie lernen!” knurrte er hämisch, und stolzierte mit gefletschten Zähnen und stolz präsentierter blutbefleckter Brust aus dem abgeteilten Bereich, um zu sehen, ob die anderen wandernden Wesen es wagen würden, sich ihm zu stellen. Er würde sie nicht töten, schließlich sollten sie das Geschehene so weit wie möglich verbreiten, damit es für immer in Erzählungen festgehalten werden möge – ebenso wie die Erinnerung an die Ashzarr und ihre Grausamkeit. Sie sollten ihn sehen und auf ewig fürchten.

 

Carna, die Bäuerin, hatte die verzweifelten Schreie ihres Mannes vernommen, entzündete eine Kerze, um nicht dort draußen mit der schweigenden Dunkelheit allein zu sein, und trat ängstlich vor die Tür. “Iobas! Iobas? Was ist los?” Noch immer herrschte im Hühnerstall Unruhe, so wurde die Aufmerksamkeit der Bäuerin darauf gelenkt. Als sie die Füße ihres Mannes aus der Tür hervorragen sah, erkannte, dass er sich nicht regte, bekam sie es wirklich mit der Angst zu tun. Die Nacht schien dunkler als sonst, und auch der Kerzenschein traute sich kaum, diese erdrückende Finsternis zu vertreiben. Die rotglühenden Augen, die Carna anstarrten, schienen damit kein Problem zu haben. Sie hielt ihre Kerze vor sich und erkannte eines der Hühner… doch es sah so anders aus! Schwarzes Gefieder, ledrige Flügel.

 

Und diese Augen, so glühend rot wie Kohlen, beinahe wie die eines blutrünstigen Raubtiers. Es gab keine Geräusche von sich, kam Carna aber bedrohlich nahe. Die Bäuerin wich ängstlich zurück. Blut tropfte von Schnabel und Brust der Kreatur, und Carna hatte schon einen schrecklichen Verdacht, wessen Blut das war. “Fort! Lass mich… tu mir nichts!” pure Angst klang in ihrer Stimme mit, und das Wesen schien dies zu spüren. Es hackte nach ihrem Bein, fügte ihr eine gemein blutende Wunde zu und verschwand dann so plötzlich, wie es gekommen war, in der Finsternis. Der Schleier einer gnädigen Ohnmacht erbarmte sich der Bäuerin sogleich.
Thrunx war noch lange in der Caeulshen Sphäre unterwegs, um den Glauben an die Existenz von Dämonen wie ihn und dadurch auch ihr Weiterexistieren zu festigen und zu sichern. Kaum eine Bauernmär wurde danach an Kinder und Kindeskinder weitergegeben, die nicht von dem dämonenbesessenen Huhn erzählt, das ahnungslose Bauern grausam zerfleischte. Später wurde von mehreren dämonischen Hühnern berichtet, immer wieder wurden Fälle von solch heimtückischen Angriffen auf Bauern bekannt.
Seitdem herrscht im Volke der Menschen Misstrauen gegenüber den Hühnern. Sie werden zwar noch auf vielen Bauernhöfen gehalten, doch selten wagt sich der Bauer bei Nacht hinein in den Stall. Und Thrunx… er kehrte als Held zu seinem Volk zurück. Seine Aufgabe war vollbracht, und seine Taten würden sowohl in der Caeulshen Sphäre als auch in seiner Heimat besungen oder weitererzählt werden. Auf diese Weise hatte er es geschafft, sein Volk vor dem Vergehen zu bewahren.